Erzählung: Johanneskirchen vor 1200 Jahren
Oh, das könnt Ihr nicht gut lesen oder verstehen? Das haben wir uns fast gedacht, deshalb haben wir den Text in unsere heutige Sprache übersetzt. Es handelt sich um die Erzählung eines Jungen, der in einem bajuwarischen Dorf im Jahre 815 nach Christus gelebt hat, einem Dorf, wie es zu dieser Zeit etwa dort gestanden hat, wo heute der Wertstoffhof in der Savitsstraße ist . . .
„Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Glied, als ob sie geleimt seien . . .“
Die ganze Nacht hat mich dieser Text in meinem Traum verfolgt. Gestern hat unser Heiler unserem besten Wachhund im Dorf einen Verband um seinen verstauchten rechten Vorderlauf gemacht und dabei die ganze Zeit diesen Spruch gemurmelt. Später hat mir Vater dann erklärt, dass dieser Spruch helfen soll, verrenkte oder verstauchte Glieder zu heilen . . . Ich hoffe, dass es Wulf hilft. Er hat so schöne braune Augen. Außerdem ist er der aufmerksamste von allen Hunden und ich streichle ihn gern.
Mein Name ist Alric. Ich bin vermutlich 8 Jahre alt, so genau weiß ich das nicht. Mutter sagt, ich kam etwa zur Tagundnachtgleiche im Frühjahr auf die Welt. Unser Dorf hat 10 strohgedeckte Lehmhäuser, in denen wir mit unserem Vieh wohnen, dazu ein paar Arbeits- und Vorratshütten. Hinter dem Dorf liegt das Moor, vor dem Dorf die Straße, die auch zur Salzstraße führt.
Gerade hat mich unser Hahn mit seinem Krähen geweckt, und ich muss gleich aufstehen, aber noch kuschle ich mich ein bisschen an meine Schwester Alrun, die ein Jahr jünger ist als ich, unter unsere Felle und Decken. Meine Geschwister Henrik und Lena neben uns sind noch kleiner und dürfen ein bisschen länger liegen bleiben. Meine Mutter kocht schon auf dem gemauerten Herd im Schein des Herdfeuers unseren Getreidebrei. Ein bisschen Ziegenmilch darüber und dann ab in die Tonschalen. Ob sie uns wohl heute ein paar Nüsse und etwas Honig dazu spendiert?
Ich recke mich und wecke damit Alrun auf. Sie reibt sich die Augen und kriecht dann von unserem Lager, schlüpft in ihren Kittel und läuft zur Mutter. Also stehe ich auch auf und ziehe meine Hose und meinen Lei-nenkittel an. Er kratzt immer noch ein bisschen, weil er erst vor ein paar Tagen fertig geworden ist. Mutter hat ihn gewebt. Ich laufe barfuß über den festgestampften Lehmboden zu ihr und hole mir meine Tonschale voll Brei. Mmm, es gibt doch Honig dazu…. Wir setzen uns auf den Rand unserer Betten, löffeln unseren Brei und schauen Mutter zu, die für die anderen Familienmitglieder und unsere Magd und den Knecht auch Brei in die Schüsseln schöpft. Vater ist schon fertig und hat unsere Ochsen angeschirrt. Nach dem Essen werde ich mit ihm aufs Feld laufen. Ich nehme meine Schleuder mit, da die Krähen zur Zeit furchtbar gefräßig sind. Sie dürfen aber unsere neue Saat nicht fressen – die ist für uns. Vater wird ein neues Feld pflügen und die anderen Jungen aus dem Dorf werden mit mir unterwegs sein und mithelfen, die Krähen zu verscheuchen.
Ich schaue aus der Tür. Es ist noch dunkel und der Morgennebel hängt über dem Moor. Aber unsere Hunde sind schon wach und laufen schwanzwedelnd um die Menschen herum. Auch die Schweine strolchen zusammen mit den Hühnern zwischen den Häusern umher. Mutter ruft Alrun und mich und gibt uns einen hölzenen Eimer mit. Wir laufen zum Brunnen, der zwischen unseren Häusern liegt, und holen mit dem Seil einen Eimer Wasser herauf. Den bringen wir ihr dann, damit sie kochen, abwaschen und gießen kann.
Mutter wird später mit den anderen Frauen und Mägden und meinen Schwestern zum Bach gehen, um die Wäsche zu waschen und zum Trocknen auf die Büsche zu hängen.
Jetzt ruft Vater mich. Ich laufe schnell zu ihm, denn er wird leicht ungeduldig, wenn er auf mich warten muss. Auf dem Weg zum Feld nickt Vater Godehard, einem unserer Wachposten, zu. Die Männer bewachen unser Dorf zur Straße hin. Vater gibt mir einen Korb und trägt mir auf, die reifen Himbeeren zu pflücken, wenn wir auf dem Feld sind. Dann erzählt er mir, dass Wulfric, unser Dorfvorsteher, sich entschieden hat, sich nun doch taufen zu lassen. Er war über den Winter krank und weiß nicht, wie lange er noch leben wird, denn er ist einer der Ältesten aus unserem Dorf.
Ich schaue über die Ebene nach Norden. Der Hügel mit dem hölzernen Gebäude ist gut zu sehen. Dort wird gerade die neue Taufkirche gebaut – sie soll dem heiligen Johannes dem Täufer geweiht werden. Und der dortige Diakon soll einer aus dem Geschlecht der Huuezzi sein. Vater erzählt noch, dass Wulfric getauft werden soll, wenn die Kirche geweiht wird. Das wird ein großes Fest geben! Wulfric wird einen Ochsen schlach-ten und ein Schwein, und die anderen aus dem Dorf werden auch ein paar Tiere dazu geben. Hei, das wird fein! Da wird dann gekocht und Brot gebacken und am Spieß gebraten – mir läuft jetzt schon das Wasser im Mund zusammen.
Aber heute gibt’s erst am Abend wieder was zu essen – wenn ich mal den schrumpligen Apfel vom letzten Herbst und das Stückchen Käse und Brot nicht mitrechne, die es geben wird, wenn die Sonne den höchsten Stand erreicht hat.
Am Nachmittag muss ich dann noch helfen, das Gras zu mähen, das inzwischen schon hoch gewachsen ist. Ich bin stolz, schon so viel mithelfen zu können. Wenn ich groß bin, will ich auch Bauer sein wie mein Vater.“
Text: Klaudia Frank
Zeichnung: Sarah Frank